Nach nunmehr sechs Jahren in einer wunderbar ereignisreichen Sexarbeit ertappe ich mich manchmal beim Gedanken schon alles zu kennen, zu wissen und erlebt zu haben, aber weit gefehlt. Es gibt immer wieder Begegnungen, die mich herrlich herausfordern, mir neue Erfahrungen bescheren und Momente mit Gäst*innen oder Kolleg*innen, die mich berühren, wachsen und lernen lassen. Ein tolles Geschenk.
Aus unterschiedlichen Richtungen wird oft wild diskutiert, ob unsere Arbeit nun ein normaler Job ist oder nicht. Diese Frage lässt sich meiner Meinung nach nicht pauschal beantworten. Es kommt hier auf den Blickwinkel an. Aus meiner situativen Sicht ist es kein ‚normaler’ Beruf. Die spannende Frage was denn nun eigentlich normal ist, darf gern an anderer Stelle abgewogen werden.
Für erotische Erlebnisse engagiert zu werden, ist etwas ganz Besonderes. Eine Person engagiert mich, damit ich einen ganz besonders tollen erotischen Moment zaubere. Ein Moment, der auf ‚freier Wildbahn‘ nicht oder nur schwer möglich ist. Manchmal lasse ich mir diesen Gedanken auf der buchstäblichen Zunge zergehen und fühle mich geehrt. Die Person hat mich dafür ausgewählt und nimmt manchmal eine sehr lange Fahrt in Kauf um mit mir etwas ganz besonderes zu erleben. Das ist einfach wunderbar. Erotische Momente bringen allerdings auch eine gewisse Vulnerabilität mit sich. Sowohl bei mir, als auch bei den Personen, die von mir bespielt werden. Diese Vulnerabilität des Moments unterscheidet sich meiner Meinung nach drastisch von anderen Dienstleistungen. Ich möchte diese Thematik am liebsten weiterführen, da die spannende Authentizität des Nacktseins auch ein Gedankengang ist, der mich fesselt, aber ich werde hier und heute etwas anderes erzählen.
Hin und wieder kann und will ich mich nicht gegen ein Schmunzeln wehren, wenn ich die spannenden Threads in diversen Internetforen lese. So habe ich schon öfters in wilden Darstellungen geschmökert, die uns Sexarbeiter*innen als abgebrühte Gött*innen darstellen, die vor nichts zurückschrecken um Gäst*innen finanziell oder anderweitig auszunehmen. Auch jetzt muss ich laut lachen, wenn ich dieses Narrativ mit unserem Atrium Backstage vergleiche. Unsere Dynamik im Team ist sehr familiär und wir tauschen uns eigentlich permanent aus um unseren Gäst*innen ein tolles Erlebnis zu bieten. Ich habe dort noch keine Person erlebt, die ihren Beruf leichtfertig ausübt und sich keine Gedanken macht wie sie wachsen und dazulernen kann. Schon oft habe ich gespürt, dass wir selbst sehr ergriffen waren über die prickelnden Momente, die wir in den Sessions erleben. Hierzu hatte ich auch schon eine Statistik in der Hand, die belegt, dass die Ausschüttung von Oxytocin sowohl bei Gäst*innen, als auch bei Sexarbeiter*innen nachzuweisen ist. Wie spannend ist das denn? Das kann ich aus eigener Erfahrung nur bezeugen. Von den abgebrühten Gött*innen also keine Spur. Zumindest nicht in meiner Wahrnehmung. Ich bin ein Mensch und die Vulnerabilität in erotischen Momenten betrifft eben auch uns Sexarbeiter*innen, respektive mich. Natürlich bringe ich mittlerweile eine wunderbare Expertise für solche Momente mit, die mir eine grosse Sicherheit verleiht, dennoch ist es für mich keine Dienstleistung wie irgendeine andere. Die Session erlebe ich genauso real wie die Person, die ich bespiele und natürlich lässt mich das ganz und gar nicht kalt. Ich bin weder ein Eisblock, noch eine Psychopathin. Es sei denn, diese Rollen sind in einem Rollenspiel förderlich.
Nun aber zurück zum orgasmischen Moment im Rollstuhl. Diese Geschichte begann wie üblich. Ich wurde gebucht für eine Session. Die Person gab an, dass sie im Rollstuhl sitzt. Seit 2004. Ich bin die erste Sexarbeiterin, die sie bucht. Sie kann nichts mehr fühlen ab dem Brustbereich bis hin zu den Zehen. Sie hat keinen Orgasmus gehabt seit dem Unfall vor 21 Jahren. Und sie nimmt eine Anreise von drei Stunden in Kauf um mich zu treffen. Das hat mich erstmal riesig gefreut. Natürlich war dies nicht das erste Spiel mit einer Person mit Handicap für mich. Ich liebe Diversität und das beinhaltet alle Arten von Diversität. Dennoch habe ich bisher bei allen Sessions mit Personen im Rollstuhl ‚nur‘ mitgespielt. Das war meine erste eigene Session. Bei dieser Überlegung wird mir wieder einmal bewusst mit welchen Privilegien ich lebe oder eben auch nicht lebe. Wie kann es sein, dass ich bereits mehr als 1000 Sessions hatte, aber jetzt erst mit einer Person im Rollstuhl? Ich frage mich, wie ich vermitteln kann, dass alle Menschen willkommen sind, sofern sie höflich und respektvoll kommunizieren und agieren. Da ist mir dann ein Handicap herzlich egal. Die zwischenmenschliche Chemie ist letztlich entscheidend. Nichts anderes.
Um die Geschichte des orgasmischen Moments abzuschließen: Ihr könnt euch sicher denken, wie es endete. Mit einem Happy End. Die Person hatte einen Orgasmus. Physisch und psychisch. Natürlich ist der Orgasmus zweitrangig in einem erotischen Erlebnis, denn der Weg ist das Ziel. Dennoch waren wir beide sehr ergriffen. Es ist so schön, eine Person zu erreichen und das hat ja bereits vor diesem Orgasmus stattgefunden. Die Hand in der Sexualität auszustrecken, ist für mich nicht schwer. Die Frage ist nur, ob mein Gegenüber mir genügend vertraut um sie zu nehmen und bereit ist, mit mir in einen erotischen Moment abzutauchen. Er hat sie genommen und ich bin ganz schön stolz, dass wir es geschafft haben eine Verbindung herzustellen und kurz einmal alles zu vergessen. Die Hürde der Vulnerabilität zu überwinden ist ein herrliches Erfolgserlebnis und dafür braucht es etwas Mut. Und den hatten wir.